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Musenkuss für Marius

Mannheim, SAP-Arena, 8. Oktober 2010

„Do I really have to play this bullshit again?“

Mit gemischten Gefühlen, war doch das vermeintlich exzellente 2005er Konzert der Rock ‘n‘ Roll-Supergau und Esotherik-Egotrip zugleich, betreten wir die gut gefüllte Arena – knapp 9.000 Zuschauer waren bereit, bis zu 100 Euro (!) für einen Marius-Abend mit ungewissem Ausgang auf den Tisch zu blättern.
Als Anheizer wurde vom Hauptdarsteller persönlich die südafrikanische Band „Isochronous“ verpflichtet. Bestehend aus Gitarre, Keyboard und Rhythmusfraktion, spielen sie eine Mixtur der „Drei-Scheußlichkeiten-des-Rock“, (Toto, Foreigner und Barclay James Harvest) auf Speed oder Acid. Immer dann, wenn Tastenmann und Gitarrist ihre Instrumente „einarmig“ spielen, werde ich skeptisch. Als der Autor dieser Zeilen für den anstehenden Konzertbericht gedanklich zur Generalabrechnung ausholt, entdeckt er gleichzeitig, wie zwei Finger der rechten Hand mitwippen. So übel war es dann also doch nicht, dem Publikum hat‘s ohnehin gefallen. Nach vierzig Minuten ist der Zauber vorbei.
Der Beau, der er ja nach eigenem Bekunden nicht ist, (Halleluja) betritt, glänzend aufgelegt, um kurz vor 21:00 Uhr die (seine) Bühne. Spindeldürr, Seidenschal und Seidenhemd, Designerbrille, dem Alterungsprozess ein Schnippchen schlagend und beginnt das Set mit „Jesus“ – von der regionalen Presse als B-Nummer abgestempelt, dabei textlich wie musikalisch eines der besten Stücke des „Radio-Maria“-Albums. Übermäßig viel bemerkenswerte Songs hatte diese Scheibe nicht zu bieten. Der Sound kommt voll-fett und eben doch differenziert, die Vocals waren zu Beginn nicht optimal. Das Publikum jedenfalls hat dem letzten deutschen Rhythm ‘n‘ Blues-Shouter einen frenetischen Empfang bereitet.
Eindeutig: „Es geht mir gut“ bzw. ihm, der „Schunkelsong“ vom Affentheateralbum, wird als Rocker zelebriert, der Innenraum ist aus dem Häuschen. Mit „Wir haben die Schnauze voll“, der ersten Singleauskopplung der brillianten aktuellen LP „Williamsburg“, wird neues Material live ausprobiert. Und: Es funktioniert. Der Song fällt nicht zu den Vorgängern ab, eher im Gegenteil. Leider ist bei „Durch deine Liebe“ irgendwas an der PA, der Gesang ist kaum zu verstehen, klingt ein wenig gequält. Mit „Willenlos“ wird der erste ganz große Gassenhauer des Abends, unterstützt von einer ziemlich blöden Videoanimation, dem Publikum angeboten. Ich kann den Künstler schon ein wenig verstehen, wenn er da sagt:
„Die meisten Konzertbesucher kommen, um ihr eigenes Gedächtnis zu beklatschen.“ Mir wird immer etwas mulmig, wenn zum Rock ‘n‘ Roll geschunkelt wird. Die „Stehplätze“ nehmen‘s bedingungslos an und flippen völlig aus, so als ob die Show zu Ende ginge und sich Marius für immer verabschiedet. Minutenlanger tosender Applaus und ein sichtlich gerührter Meister. Ich habe Angst, dass die dämlichen „Ihr-seid-die-Größten“-Sprüche wieder Einzug halten, lässt er aber bleiben, wurde während der Stadionphase auch überstrapaziert.
Durchatmen! Auch weil „Fertig“ (Halleluja) zwar musikalisch gehaltvoll, textlich aber nicht schlüssig (Du kannst nicht einfach deine Mutter töten, du kannst ja nicht mal auf den Fingern flöten) ist.
Mit dem Stalkersong „Typisch Du“ (Williamsburg) fängt er die Euphorie von „Willenlos“ gekonnt ein, bei „Nur ein Traum“, einem der besten Songs des Halleluja-Albums, kehrt sogar etwas Ruhe ein.
Es folgen „Alleine“ und „Lieben werd ich dich nie“ der Blueskracher ebenfalls von „Halleluja“ kommt so energetisch aus den Boxen, dass man meinen möchte, Marius hat sein rosa Unterhemd doch noch nicht gegen den Maßanzug getauscht.

Alle die zu „Schweigen ist feige“ mitrocken, der kreative Höhepunkt von „Affentheater“, wissen hoffentlich, das Schweigen feige ist. Im Gedrängel in der Tram bei der Rückfahrt zum Bahnhof, rufe ich mir die Zeilen nochmals ins Gedächtnis ...SCHWEIGEN IST FEIGE....

„Schinderhannes“ (Williamsburg) funktioniert auch live prima, ist für mich großartiges Songwriterhandwerk gepaart mit Rockattitüde, „Ganz und Gar“ dem letzten Song des 87er schlicht mit „Westernhagen“ betitelten Albums konnte ich noch nie so richtig viel abgewinnen, wenig Rockfeeling und für meinen Geschmack etwas zu viel Pathos.
Bei dem Dreierpack „Hey Hey“ von „Williamsburg“, „Zu lang allein“ und „Nureyev“ von dem wohl ambitioniertestem Marius-Album überhaupt, der 2002er Gitarrenattacke „In den Wahnsinn“ nimmt das Publikum einen Gang raus. Ich habe den Eindruck, das dies durchaus beabsichtig war. Überhaupt wurde konsequent vermeintlich schwieriges Material mit Gassenhauern gemischt, teilweise so clever, dass es niemand bemerkt hat. Auch eine Art des musikalisch aufrechten Ganges.
Wie könnte es anders sein – mit „Pfefferminz“ beendet Marius den ersten offiziellen Teil, beginnend „quasi-a-capella“, dann semiakustisch, zuletzt in voller Rock ‘n‘ Roll-Pracht.
Selbst mein hüftsteifer Mittfünfziger Nachbar, gutverdienend und sich mit Mutti einen netten Erinnerungsabend für 91,00 Euro gönnend, erhebt sich um kontrolliert mitzurocken.
Zu „Sexy“, zur Erwartungshaltung des Publikums und zur Einstellung des Künstlers (siehe Titel) muss man nicht mehr viel schreiben. Das es dennoch gespielt wird, als Synonym für die Stadionzeit, darf durchaus als Hommage an das geneigte Publikum verstanden werden, ohne sich zu verbiegen, aber wissend, wer für die „Kohlen“ sorgt.
Der Vorhang fällt erst gar nicht, denn er hat ein Luxusauto und ‘ne tolle Wohnung, doch was ihm fehlt... nein eben nicht heute Abend, heute ist die volle Dröhnung angesagt.
Mit dem Mann „Zwischen den Zeilen“ wird nochmals ein Song aus „Williamsburg“ gespielt, klasse Songwriting, unterstützt von einer Band, die über jeden musikalischen Zweifel erhaben ist. Insbesondere der „musikalische Direktor“ Kevin Bents, der auch so von Marius vorgestellt wird. An den Drums sitzt kein geringerer als Aaron Comess, im ersten musikalischen Leben der Schlagzeuger der „Spin Doctors“. Vergangene Millionenseller machen es möglich, dass auf der aktuellen LP u. a. ein Andy Newmark an der Schießbude sitzt und Larry Campbell die Saiten zupft, beide Stars der NY-Studioszene. Die Sängerin Della Miles bekommt mit einem eigenen Stück ihr Podium vor einer Riesenkulisse und von Westernhagen die Tür für die musikalische Zukunft geöffnet. Vom Chef sehr anständig und generös, an diesem Abend überflüssig, aber eine tolle Stimme, allemal.
„Wieder hier“ die Ballade von „Radio Maria“ leitet in den zweiten Teil der Zugabe über.
Mit „Die Welt brennt lichterloh“ wird der absolute Höhepunkt des Abends abgefackelt. Verzerrte dreckige E-Gitarren, endlich gute Videoeinspieler, grandioses Jamming der Band und genervtes Kopfschüttelen meines Nachbarn, der der Hits wegen gekommen ist. Ein bißchen unberechenbar ist der Marius eben immer. Nach dem nachdenklichen Liebeslied „Engel“ fällt der Vorhang.
Doch Schluss ist nicht, das beste an dem Rührstückchen „Freiheit“ („Westernhagen“) ist, dass es vor der Wiedervereinigung komponiert wurde und nicht unter Verdacht steht, dass der Kommerz bedient wurde. Mich nervt es trotzdem, wie auch die Reaktionen aus Teilen des Publikums – nichts verstanden!
Ich bin mir sicher, dass es bei einem Vollprofi wie Westernhagen eigentlich nicht sein kann, der ist ja zehnmal so viel Publikum gewöhnt, an einem Abend wohlgemerkt, doch lassen sich hinter der Sonnenbrille feuchte Augen vermuten. Den von der deutschen Kritikerschar oft zitierten Vergleich zwischen ihm und dem fleischgewordenen Zeigefinger mit der ehemals blonden Schüttelfrisur, der sein Innerstes nach außen wendet, gewinnt er mühelos. Was sind schon Verkaufszahlen gegen eine R&B-Scheibe like „Williamsburg“?

Zum Schluss lassen wir mit „Johnny W.“ dreizehn gerade sein. Welch ein Abend!!!

Halleluja!

Gunther Böhm

P.S. Beim Schreiben dieser Zeilen höre ich die geschmähte 2005er „Nahaufnahme“, gar nicht mal so übel....